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Kayama Rika in AERA - Artikel 2

Original: AERA Vol. 24 No. 21 vom 2.- 9. Mai 2011, S. 66-69

Übersetzung von Johanna Mauermann, M.A.(Universität Frankfurt) (September 2011)


[aus dem Inhaltsverzeichnis]

Kayama Rika berichtet vom Ort des Geschehens: „Es gibt keine Gemeinschaft.“

Katastrophenopfer erzählen ihre Geschichte; die verschiedene Einstellungen zum Wiederaufbau

 

[Artikel S. 66, Redaktion: Kobayashi Akiko]

Kayama Rika berichtet vom Ort des Geschehens

„Es gibt keine Gemeinschaft.“

“Jetzt stehen wir als Einheit zusammen“, “Japan ist ein starkes Land“, “Lasst uns ein neues Japan wiederaufbauen“. An wen richten sich diese Botschaften, die ständig und überall propagiert werden? Einen Monat nach dem großen Erdbeben habe ich mich im Katastrophengebiet umgehört und bin auf eine Vielzahl von Einzelstimmen gestoßen.

Das Budôkan, die große Kampfsporthalle im Tôkyôter Bezirk Adachi, ist zu einer Notunterkunft umfunktioniert worden, in der hauptsächlich Menschen aus der Präfektur Fukushima unterkommen. Ich habe dort mit einem 27-jährigen Paar gesprochen. „Möchten sie etwas sagen?  Auch über die Politik oder Verwaltung vielleicht?“ Als ich so fragte, begann die Frau zu erzählen, sie seien nach dem Reaktorunfall mit nichts als ihren Kleidern am Leib aus Futabachô (Anm.: eine Stadt in der Nähe des havarierten Atomkraftwerks Fukushima Daiichi) geflohen.

„Wissen Sie…obwohl ich ‚Danke‘ gesagt habe, meinte sie nur: ‚Von Dankbarkeit merke ich nichts‘. Das klingt doch so, als hätte ich mich nie bedankt.“ Ich hatte eigentlich erwartet, dass sie etwas über Fukushima oder die Situation der Betroffenen sagen würde. So war ich sehr überrascht, als plötzlich etwas derartig Persönliches aus ihr herausbrach. Anscheinend war es diese “meine eigene Geschichte“ (watashi no hanashi), die sie in dem Moment unbedingt erzählen wollte. „Von welcher Frau sprechen Sie denn?“, erkundigte ich mich und wandte mich in dieser so unruhigen Lobby voller Menschen eine Weile nur ihr und ihrer Geschichte zu, als wären wir in meinem Sprechzimmer. 

Ihr Freund sei, nachdem er zuerst bei Verwandten untergekommen war, ins Budôkan umgezogen. Sie selbst hätte sich jedoch bei einer alten Freundin, die nun in Tôkyô lebt, einquartiert. Ihre Freundin dort hätte ihr geraten, „Nutz‘ doch die Zeit hier bei mir, um Arbeit und eine eigene Wohnung zu suchen“. Aber da sie anfangs gedacht hatte, bald wieder zurückkehren zu können, hätte sie sich nicht recht dazu entscheiden können.


Spiel nicht das Opfer!

„Sie sind nicht vor dem Tsunami, sondern vor der Reaktorkatastrophe geflohen. Dann haben Sie sich doch zu einem gewissen Grade darauf gefasst gemacht und auf eine Flucht vorbereitet, oder?“ Meine Frage entsprang meiner Vorstellung der Abläufe. Der Partner der Frau meinte daraufhin, dass die Flucht sich in aller Eile vollzogen hätte: „Als sie hier ankam, hatte sie noch in ihre Arbeitsuniform an.“

Gleich nach dem Beben hätte man ihnen versichert, das Atomkraftwerk sei in Ordnung. Mitten in der Nacht wäre dann jedoch wiederholt über die Lautsprecherwarnsysteme der Stadt die Nachricht erklungen: „Bitte halten Sie die Fenster geschlossen und gehen sie nicht nach draußen.“ Im Morgengrauen hätte sie das Gefühl gehabt, durch die geschlossenen Fenster die Durchsage „Reaktor 6 ist seitlich umgestürzt“ zu hören. „Bis morgen bin ich wieder zurück. Aber fürs Erste will ich hier weg.“, so ihr einziger Gedanke. Sie erzählt weiter, dass sie nichts außer einer kleinen Tragetasche (Anm.: jap. tôto baggu, eine Tragetasche in Handtaschengröße) eingepackt und dann mit ihrem Partner und seiner Familie im Auto losgefahren sei.

In Tôkyô hätte sie keine Zukunft für sich gesehen. Sie sei dann einmal zum Karaoke gegangen, um ein wenig Stress abzubauen. Daraufhin hätte ihre Tôkyôter Freundin gemeint: „Von wegen dankbar, davon merke ich nichts.“ Und weiter: „Wie lange willst du noch das Opfer spielen?“ Da hätte sie beschlossen, sich ein Apartment zu suchen und auszuziehen. „Und das von einer engen Freundin“, fügt ihr Partner hinzu, während er seine Freundin liebevoll ansieht. Er selbst arbeitete in Fukushima im Bereich der Atomkraft. Er ist inzwischen von der Notunterkunft im Budôkan in eine städtische Wohnung gezogen. Erst jetzt kann er die Jobsuche angehen. „Ich habe mir auch überlegt, ob ich mich nun in Tôkyô niederlassen sollte. Aber unter diesen Umständen gehe ich sicher wieder weg. Ich möchte gerne wieder nach Fukushima. Nur mit Atomkraft möchte ich nichts mehr zu tun haben.“ Seine Freundin fügt mehrmals hinzu: „Mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf, ich kann mich nicht entscheiden“. Beide haben Familie und Geschwister. Auf der Flucht sei es jedoch zu Konflikten gekommen und nun hätten sich alle zerstreut. „Alle sind in Panik, alle verhalten sich einfach anders als sonst…“. Sie sagen das fast gleichzeitig und starren betreten zu Boden. Dabei sehen die beiden eigentlich aus wie ein frisch verlobtes Pärchen, das zur Wohnungssuche oder ähnlichem nach Tôkyô gekommen ist.

Es gibt von AC Japan (Anm.: großer japanische Werbeagentur) eine Erdbeben-Kampagne für das Fernsehen. Diese zeigt Nakai Masahiro, ein Mitglied der Boyband SMAP (Anm.: bekannte japanische J-Pop Band um Nakai und den Sänger Kimura Takuya, gegründet 1991). Man hört ihn darin sagen: „Wir müssen jetzt als eine Gemeinschaft zusammenstehen“ (Ima hitotsu ni naru toki). Was sieht man jedoch, wenn man sich dem Einzelnen zuwendet? Das Leben der Menschen, die vom Erdbeben, Tsunami oder der Reaktorkatastrophe betroffen sind, ist in seinen Grundfesten erschüttert worden. Jeder hat mit seiner eigenen Traurigkeit zu kämpfen, mit seinem persönlichen Leid, mit den eigenen Problemen. Ob nun unter besten Freunden, Nachbarn, Kollegen oder gar der Familie: man kann nicht mehr „eine geistige Einheit sein“ (kokoro o hitotsu ni). Man hat sich gegenseitig verletzt, muss bittere Erfahrungen verarbeiten. Da wird man nicht so schnell eine Einheit bilden, was auch immer mit dem Begriff gemeint sein mag.

 

Als wolle man sich hineinsteigern

In den Zeitschriften liest man überdies kraftvolle Slogans wie “Der Weg zum Wiederaufbau eines neuen Japans“ (atarashii Nihon no fukkô e) oder “Die zweite Hochwachstumsphase beginnt“ (dai-ni no kôdo seichô ga hajimaru). Mit Wiederaufbau ist hier nicht nur die Wiederherstellung des Alltags im Katastrophengebiet gemeint. Mitzuschwingen scheint auch ein Loslösen von der Rezession, die Japan schon lange vor dem Erdbeben in im Griff hatte, ein Wiederbeleben der Wirtschaft. Mit dem Ausdruck “Nippon nach der Erdbebenkatastrophe“ (shinsai-go no Nippon) wird eine imaginäre Gemeinschaft beschworen, man fordert ein vereintes Japan, wünscht sich die Regeneration des Landes und wirtschaftlichen Aufschwung.  Aber brauchen die Bewohner im Katastrophengebiet wirklich diesen  “Gewaltmarsch Staatserneuerung“ (sôryokusen de no atarashii kuni-zukuri)? Geht es nur mir so, dass die Kluft zu den tatsächlich Betroffenen und deren Gefühlen in dem Maße zu wachsen scheint, in dem sich die Menschen außerhalb der betroffenen Gebiete in diesen von Tôkyô ausgehenden “Wiederaufbau-Nationalismus“ (fukkô nashonarizumu) steigern?

Am 14. April, einen Monat nach dem großen Erdbeben, sprach ich in der Stadt Watarichô, die etwa 20 Kilometer südlich von Sendai liegt, mit sechs Ortsansässigen. Alle sind Opfer der Katastrophe, aber auch hier ist die Situation eben „für jeden anders“. Der eine hat seine Familie verloren, der andere sein Haus, wieder ein anderer seinen Arbeitsplatz, das Bild ist vielfältig. Manche sagen: „Im Vergleich zu Sanriku (Anm.: Name eines Gebietes in Tôhoku. Dort liegen die am schlimmsten vom Tsunami zerstörten Orte.) wird über Watarichô und das nahegelegene Yamamotomachi kaum berichtet“. Gleichzeitig meinen andere: „An den Wochenenden kommen die Schaulustigen in Massen, um die vom Tsunami verwüsteten Straßenzüge anzusehen. Das behindert uns beim Aufräumen.“ Am Tag zuvor war der gleich nördlich gelegene Flughafen von Sendai teilweise wiedereröffnet worden. Natürlich war dies ein erfreuliches Thema, das in aller Munde war. Eine 51-jährige Frau, deren Haus fast völlig zerstört worden ist, meinte dennoch mit düsterem Gesichtsausdruck: „Die Maschinen des Schwerindustrie sind alle dorthin abberufen worden, entsprechend verlängert sich hier nun der Wiederaufbau. Mir ist zwar klar, dass es problematisch ist, wenn der Flughafen nicht wiedereröffnet werden kann, aber wir normalen Bürger werden links liegengelassen.“

Ich sprach auch mit Watanabe Tomoyuki (40), der eine Firma für Wasserinstallationsarbeiten leitet. Auch diese hat durch den Tsunami Schaden erlitten. Auf meine Frage „Wird es stressig für Sie werden, wenn bald in aller Eile zahlreiche provisorische Wohnung errichtet werden müssen?“, schüttelte er nur verneinend den Kopf. „Wir haben kein Werkzeug und kein Material“, antwortete er. „Profitieren werden am Ende nur die großen Unternehmen. Kleine Betriebe wie wir könnten doch, wenn wir ein Darlehen von der Bank bekämen, letztlich unsere Schulden nicht zurückzahlen. Bei den örtlichen Firmen wird es in fünf Jahren eine Konkurswelle geben.“

Wo Licht ist, ist auch Schatten. In den Herzen der Bewohner der Region, wie auch in meinem Inneren kochen die verschiedensten Gedanken und Gefühle hoch und flauen wieder ab. Es ist völlig verständlich, das dies gemischte Gefühle sind, auch widersprüchliche. Wenn man den Ausdruck „Japan ist ein starkes Land“ (Nihon wa tsuyoi kuni) als Messlatte für die Vereinheitlichung der Haltung und des Wertverständnisses benennen will, frage ich mich ehrlich, wer dem wohl entsprechen könnte.

 

Den Blick nach draußen wenden, nur nach draußen

Von Watarichô fuhr ich nach Sendai zurück und traf dort Arakawa Yôhei (29), der auf seinem „Blog zur Unterstützung des Wiederaufbaus von Nattorishi-Yuriage“ (Nattorishi Yuriage fukkô ôen burogu, Link: http://blog.livedoor.jp/coolsportsphoto/) ständig aktuelle Informationen zur Region veröffentlicht. Das Elternhaus von Arakawa im Stadtteil Yuriage der Stadt Nattorishi hat durch den Tsunami große Schäden davongetragen. Zum Zeitpunkt des Tsunami waren sein jüngerer Bruder und seine Mutter aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause gewesen. Die Leiche des Bruders konnte inzwischen identifiziert werden, von der Mutter fehlt noch immer jegliche Spur. Mit dem Vater und dem älteren Bruder sei er zu den Leichenschauhäusern gegangen, um nach der Mutter zu suchen. Das erfuhr ich aus seinem Blog. Ich stellte mir vor meinem geistigen Auge “einen jungen Mann in Arbeitskleidung und völlig erschöpft“ vor, als ich zu Arakawas Arbeitsplatz unterwegs war. Doch dann trat er aus einem Büro für IT-Design heraus, das an einem Platz lag, der – um einmal von Tôkyô zu sprechen -  mit Daikanyama (Anm.: Viertel in Tôkyôs Stadtteil Shibuya) zu vergleichen ist.  Ein groß gewachsener, junger Mann, gekleidet in ein lässiges Jackett, das perfekt sitzt.

Wir tranken in einem Café neben einem Park voller blühender Kirschbäume Tee und er erzählte mir von seinen Erfahrungen und seiner jetzigen Gemütsverfassung.  Dass er an jenem Tag von seinem Arbeitsplatz zurück in sein Apartment in Sendai gefahren sei und sich gefragt habe, ob wohl alles daheim in Ordnung sei, da die Telefonverbindung nach Yuriage tot gewesen sei. Wie schockiert er gewesen sei, als er am nächsten Tag über den Zeitungsverleger Bilder des überschwemmten Yuriage gesehen habe. Dass er sich daraufhin das Auto eines älteren Kollegen ausgeliehen habe und in Richtung seines Elternhauses aufgebrochen sei. Wie er unterwegs, als das Wasser so tief wurde, dass er nicht weiterfahren konnte, bereits überzeugt war, dass vom Haus nichts übrig sein könne. Und dass er hin- und hergerissen gewesen sei zwischen dem Entschluss „Ich will meine Mutter finden“ einerseits und Zweifeln andererseits, ob er sie überhaupt finden könne, da ihre Verletzungen sicher schwerwiegend sein müssten….Die Kluft zwischen der heftigen, schrecklichen Geschichte und der sonnigen Umgebung mit dem so eleganten Arakawa vor mir war so groß, dass ich  mich für einen Moment fragte, ob dies real sei. Ich hatte den Eindruck, dass der junge Arakawa den Blick möglichst weit weg von seiner “eigenen Geschichte“ (watashi no hanashi) lenken wollte. Deshalb spricht er mit dem Namen „Blog zur Unterstützung des Wiederaufbaus von Nattorishi-Yuriage“ wohl auch eine größere Zielgruppe an. Als ich ihn fragte, ob er der japanischen Bevölkerung etwas mitteilen wolle, meinte er sofort: „Ich will, dass sich alle die gegenwärtigen Zustände ansehen und hierher kommen. Ich möchte, dass sie das fühlen, was sich über das Fernsehbild nicht vermittelt.“ Er fügte noch hinzu: „Ich sage eben nicht ‚Lasst mich in Ruhe‘, sondern ich wünsche mir, dass viele Menschen die Tsunami-Katastrophengebiete besuchen. Und danach übernachten sie dann hoffentlich in Sendai, trinken und essen dort und fördern so die Wirtschaft.“, meint er mit einem Lächeln.

Im Bezirk Nattorishi Yuriage, in dem Arakawa bis zu seinem berufsbedingten Auszug lebte, liegen noch immer Trümmer, die Aufräumarbeiten sind im Gange. Es ist viel vorangegangen seit meinem letzten Besuch zwei Wochen zuvor, doch noch immer liegen auf den Straßen zertrümmerte Fahrräder und fortgeschwemmte kleine Boote.

 

Ein Ort voller “eigener Geschichten“

Die Yuriage-Grundschule wird nicht als Notunterkunft verwendet, da das Erdgeschoss während des Tsunami fast vollständig unter Wasser stand. Stattdessen warten in der Turnhalle inmitten von Schutt jede Menge „Andenken“ (omoide no shina) auf ihre Besitzer. Es sind Fotoalben, Ahnentäfelchen, Urkunden und ähnliches, die von den Soldaten hier zusammengetragen worden sind. Freiwillige aus dem ganzen Land haben die Gegenstände von Schmutz befreit und nach Kategorien wie „Hochzeit“, „Abschlussalbum“ und ähnlichem sortiert und aufgestellt. Die Helfer, aber auch die Familien, die nach Erinnerungsstücken suchen, verharren in Schweigen. Selbst an diesem Ort würden die, die als das Orchester staatstragender Prosa auftreten, wohl ihre Parolen “Japan ist ein starkes Land“, “Jetzt als nationale Einheit“ (ima koso kyokokuicchi de) wiederholen. Aber die Rufe zum „Wiederaufbau-Nationalismus“ würden wohl in der stillen Turnhalle voller “eigener Geschichten“ umsonst erklingen, dachte ich mir.

In Watarichô, der Stadt südlich vom Flughafen Sendai in der Präfektur Miyagi, sah ich zwischen den grauen Trümmerbergen bunt leuchtend Flaggen wehen. Vom Tsunami sind etwa 1000 Häuser zerstört worden, die Aufräumarbeiten mit schwerem Gerät begannen am 18. April im Küstengebiet, wo bis dahin noch nichts geschehen war. Die Fahnen in ihren jeweiligen Farben fungieren als Markierungspunkte. Eine rote Flagge bedeutet, dass die Bewohner ihr Haus zusammen mit dem Schutt beseitigen lassen wollen. Gelb steht für diejenigen, die zwar die Trümmer abtragen lassen, aber ihr Haus behalten wollen. Eine grüne Fahne bedeutet, dass ein Anwesen überhaupt nicht berührt werden soll. Je näher man dem Meer und der Flußmündung kommt, desto mehr dominiert die Farbe Rot das Bild.

Das Haus einer Händlerin (51) ist, obwohl nah am Meer, nicht davon gespült worden. Dafür sind Wände eingestürzt und man hat nun von außen einen ungehinderten Blick auf die Tokonoma-Nische (Anm.: traditionelle Zimmernische in japanischen Häusern). Im Haus liegt ein circa ein Meter hoher Berg aus Holz und Müll. Wer sich dort den Weg hindurch bahnt und die Schiebetüren der Einbauschränke öffnet, dem kommt ein Schwall brackiges Wasser entgegen. Die Frau hatte klatschnasse Fotoalben und Mutter-Kind-Notizbücher aus dem Haus gerettet und diese dann ins Auto gelegt, weil es in der Notunterkunft keinen Platz gab. Wegen der Unterbrechung der Wasserzufuhr konnte sie die Gegenstände nicht waschen, so dass sie nun ruiniert sind. Sogar Münzen sind gerostet. Wenn die Zerstörungskraft durch das Salzwasser so enorm ist, wäre es wohl genauso teuer, das Haus neu zu bauen, als es reparieren zu lassen. So verlor sie die Hoffnung, dass wenigstens das Haus geblieben ist. Sie wählte dann im Lager eine rote Fahne. Gleichzeitig musste sie sich von dem Haus verabschieden, in dem sie geboren und aufgewachsen ist und parallel dazu die Suche nach einer neuen Bleibe beginnen. Um nach vorne blicken zu können, musste sie die Erinnerungen verdrängen. Eine Qual.  Trotzdem sei es so besser, als wenn das Haus gleich verloren gewesen wäre. „Ich will gar nicht mit ansehen, wie das Haus zerstört wird, aber so kann ich kurz davor noch ein Foto machen und es meinen Eltern zeigen, die in einer weit entfernten Notunterkunft sind.“

 

Notunterkünfte im Wandel

Auf der anderen Seite gibt es Herr Onoei (70), der sich für eine gelbe Fahne entschieden hat. Er hat mit seiner Enkelin, die mit dem Expressbus aus Tôkyô herbeigeeilt ist, sein Haus aufgeräumt. Wenn erst einmal Strom und Wasser wiederhergestellt seien, wolle er im ersten Stock, der einigermaßen bewohnbar scheint, leben. Seinen Lebensunterhalt hat er stets von seinen 1,4 Hektar Reisfeldern bestritten. Er kann sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben. Aber durch den Salzschaden sind die Aussichten für den Reisanbau schlecht. „Man kann nichts dagegen tun, dass junge Menschen unter solchen Bedingungen in die Städte abwandern. Hier in der Umgebung stehen zwar noch zehn Häuser, aber wie viele Bewohner sind übriggeblieben?“

Weil die Vorgehensweise der Stadt Watarichô die Bedürfnisse der Bürger respektiert, erhält die Stadt von Körperschaften anderer betroffener Orte im Katastrophengebiet zahlreiche Anfragen bezüglich ihrer Maßnahmen. Denn die ihnen jeweils anvertrauten Bürger und Bürgerinnen stehen vor großen Problemen. Wer sich zum Beispiel nicht schlüssig ist, ob sein Haus stehen bleiben soll oder nicht, erhält für den Anfang eine gelbe Fahne und wird gebeten, sich innerhalb der nächsten drei Monate zu entscheiden.

Drei Tage nach der Katastrophe war ich in einem betroffenen Gebiet im südlichen Teil der Präfektur Miyagi. Als ich dort ein Notlager betrat, fiel mir die große Menge Menschen auf, die nicht klagten und sogar meinten: „Anderen geht es noch schlimmer.“ Wie sich gegenseitig unter Lagernachbarn über ihre unglaublichen Erfahrungen mit dem Tsunami berichteten, wirkte sehr beherzt. Nun, einen Monat später in derselben Gegend, hat sich das Bild der Notunterkünfte grundlegend verändert. Zum Beispiel wohnen nun viele bei Verwandten und haben die Lager verlassen. In einem Auffanglager  sitzen Menschen, die schon mehrmals zum Umzug gezwungen waren, wie geistesabwesend um den Ofen herum. „Letzten Endes muss man sich doch selbst helfen.“, sagt Shiroi Ryûji (34), der seine Mutter verloren hat und obdachlos geworden ist. Weil er auch seine Arbeit in einem Thermalquellenbetrieb eingebüßt hat, arbeitet er nun in der Zwischenzeit in der Notunterkunft. Unzählige Male ist er schon mit dem Fahrrad zum provisorischen Gemeindeamt gefahren. Weil er nichts mehr hat, beginnt nun für den Namensstempel und alle weiteren Dokumente eine Odyssee von Verwaltungsgängen.

 

Schlussendlich ist man hilflos

Sein Vater, der Fischer ist, fand sein Boot auf einem Hügel wieder. Er ließ es mit einem Kran anheben und in den Hafen zurückbringen. Das Schiff selbst war unbeschädigt, allerdings fehlten die Netze. Und das Fischereigeschäft hat nicht geöffnet. Deswegen kann er nicht auf Fischfang gehen, sein Schiff bleibt vertäut auf Anker. „Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass alle, auch wenn sie sich euphorisch in den Wiederaufbau hineinsteigern, doch sagen, dieser sei die Angelegenheit der Anderen.“ Er selbst versucht sein altes Leben aus eigener Kraft wiederherzustellen, aber jeder Schritt ist eine Herausforderung für sich.

Der Zimmermann Suzuki Mitsuhiko (41) hat um die Reparatur seines beschädigten Hauses gebeten, aber in fast allen Fällen endete diese bei Kostenvoranschlägen. Es dauert lange, bis für ein Haus, das nicht vollständig fortgeschwemmt wurde, entschieden ist, ob es sich um einen Totalschaden oder einen Teilschaden handelt. Das Ausstellen der offiziellen Geschädigten-Bescheinigung kann bis zu einem Monat dauern. Für die Zukunft hat er deshalb keine Prognose, auch kann er das Geld für die Reparaturkosten nicht bereitstellen. „Wenn wir die Häuser nur reparieren lassen könnten, würden die Leute auch wiederkommen. Aber so bleibt uns nur, auch weiterhin hilflos in den Notlagern auszuharren. Obwohl ich überlebt habe, obwohl ich gesunde Arme habe, kann ich überhaupt nicht helfen, weil es auch gar kein Material gibt.“

Ein Gebäude in der Nähe des Flughafens von Sendai, eine stillgelegte Bowlinghalle, ist zum Leichenschauhaus der Stadt Nattorishi umfunktioniert worden. In der Woche nach dem Tsunami waren in der Stadt alle Geschäfte geschlossen, aber nun haben die Gaststätten und Pachinko-Hallen (Anm.: Pachinko ist ein beliebtes Automaten-Glücksspiel in Japan, das in eigenen Spielhallen angeboten wird.) geöffnet. Man hat wieder das Gefühl, sich in der Umgebung einer ländlichen Großstadt zu bewegen. Von Tag zu Tag werden es weniger, die der geschäftigen Stadt den Rücken kehren und mit schweren Schritten auf der Suche nach ihren Angehörigen die Bowlinghalle betreten. In dessen Eingangsbereich gibt es ein schwarzes  Brett, das mit quadratischen Zetteln beklebt ist.  Es handelt sich um offizielle Aushänge der Behörden. Es gehört jeweils eine Farbe zu einer geschriebenen Nummer, gezeigt wird auch Ort und Termin des Leichenfundes. Eine Woche nach dem Tsunami war dieses Brett von Aushängen übersät. Die Särge standen in Reihen angeordnet, auf dem glänzenden Boden kauerten die Familien, die den Abschied von den ihren betrauerten. Einen Monat später sieht man nur noch vereinzelt Särge. Die Zahl der Aushänge, die über neu aufgebahrte Leichen informiert, liegt bei Null. Es gibt auch keine Blumen mehr, die vorher an die Trauergäste verteilt worden waren. Seinerzeit hatte mich der Geruch von Duftaromen, die zur Überdeckung des Verwesungsgeruchs verbannt wurden, fast erstickt. Die Polizisten arbeiteten damals unermüdlich: sie trugen Särge herein, öffneten sie mit den Angehörigen, begutachteten die Operationsnarben. Und in einer eigens am Eingang aufgestellten Badewanne schrubbten sie unaufhörlich die von Schlamm vollgesogenen Kleider und Hinterlassenschaften der Toten. Die Toten, deren Identität nicht geklärt werden konnte und deren Angehörige nicht erschienen sind, sollen nun in Tôkyô eingeäschert werden.

Allein in Nattorishi werden nach wie vor über 1000 Menschen vermisst.

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