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Das Opfer-System AKW

Takahashi Tetsuya

Quelle: Asahi jānaru 5.6.2011, Sondernummer zum Thema „AKW und Mensch“, S. 10-14.

übersetzt von: Steffi Richter (Universität Leipzig)


Takahashi Tetsuya ist ein bekannter Sozial- und Moralphilosoph, der sich immer wieder mit dem Zusammenhang von Geschichte und Gesellschaft, Schuld und Verantwortung befasst und seine Reflexionen auf Probleme der Gegenwart bezieht – der Wissen also auch als Praxis versteht. Der Formierung moderner Nationalstaaten aus der Perspektive des Opfer(n)s, die auch im vorliegenden Text seinen Blick lenkt, widmete er sich in seinem 2005 erschienenen Buch „Staat und Opfer“ (Kokka to gisei). Auseinandergesetzt hat er sich in den letzten Jahren, in denen in Japan und anderswo neue – und zugleich alte – Formen des Nationalismus und Geschichtsrevisionismus von sich Reden machten, unter anderem auch mit dem „Yasukuni-Problem“. Das gleichnamige, ebenfalls 2005 publizierte Buch Yasukuni mondai wurde zu einem Bestseller. Zu den Themen Verantwortung und Opfer hat er in den letzten Wochen auch in anderen Journalen das Wort ergriffen. Dass er vor dem Hintergrund der Dreifachkatastrophe, die Japan erschüttert hat und verändern wird, selbstkritisch auch sein eigenes Handeln, seine eigene Verantwortung für die Geschehnisse befragt, klingt am Anfang und Ende nicht nur dieses Textes an. In der Sondernummer der Zeitschrift „Posse“ (Vol. 11, 5/2011) zum Thema „3/11“ geht er in einem Gespräch mit dem Titel „Die Opfer von Fukushima und ‚menschliche Verantwortung‘“ (S. 5-16) auch auf seinen eigenen Werdegang ein: in und nach der Zeit der ökonomischen Hochwachstumsphase (1960er Jahre), in der der Ansturm vor allem junger Leute auf die Großstädte zur Entvölkerung peripherer Regionen führte, worin ein Grund für die Ansiedlung von AKW gerade in solchen strukturschwachen Gebieten wie Fukushima zu sehen ist. „Ich selbst wollte in der ökonomischen Hochwachstumsphase Wissenschaftler werden und ging von Fukushima (seiner Heimatpräfektur, S.R) nach Tōkyō. Ein Grund, warum mich der jetzige AKW-Unfall wie ein Faustschlag ins Gesicht traf und schockierte, lag auch darin. Nicht einfach nur, weil ich selbst in den Genuss des Stroms aus den AKW von Fukushima kam; sondern aus der Überlegung heraus, dass ich allein dadurch, dass ich Tōkyōter wurde, dazu beitrug, dass meine Heimat radioaktiv verschmutzt wurde.“ (S. 13)

 

Den hier übersetzten Artikel beginnt Takahashi mit der Schilderung eines Besuches der Fukushima-Präfektur am 17. April diesen Jahres: zunächst der Yamakiya-Grundschule im Bezirk Yamakiya in der Stadt Kawamata-machi, an deren Gebäuden zwar auch Spuren der Erdebenkatastrophe zu sehen gewesen seien, die aber – ca. 30 km entfernt vom AKW Fukushima 1 – vor allem unter der radioaktiven Verschmutzung zu leiden habe: von allen Grundschulen der Präfektur waren am 13. April hier die höchsten Werte gemessen worden. Daher sollten nun alle Kinder, im Weiteren auch die Erwachsenen des gesamten Bezirks innerhalb von Kawamata-machi evakuiert werden. Niemand der Bewohner, die mit Fukushima 1 und 2 bislang kaum etwas zu gehabt hätten, habe sich träumen lassen, einmal diese ihnen vertraute und landschaftlich schöne Gegend verlassen zu müssen.

Halt machte er auch in Iitate-mura, das einen Monat nach der Katastrophe vollständig evakuiert werden musste. Von der Landwirtschaft und Viehzucht lebend – berühmt seien die „Iitate-Rinder“ und ihr Fleisch –, hätten dessen Einwohner mit dem AKW nichts zu tun gehabt, nun aber mussten alle 6000 ihr wunderschönes Dorf, einschließlich der Rinder auf den Weiden, aufgeben.

In der davon östlich gelegenen Stadt Minamisōma sei er dann im Rathaus Betroffenen begegnet, die intensiv Namenslisten von Toten oder Beileidsbekundungen aus dem ganzen Land betrachteten. Auf seinem weiteren Weg zum AKW, etwa 20 km davor, sei er dann auf Schilder wie „Betreten verboten“ oder „Durchfahrt verboten“ gestoßen, und obwohl niemand kontrolliert habe, sei er doch lieber umgekehrt.

Takahashi selbst, dessen Eltern aus der Stadt Fukushima stammen, wurde in Iwaki/Fukushima-Präfektur geboren und wuchs dort auch auf. Die Grundschule hat er in Tomioka-machi besucht, wo sich das AKW Fukushima 2 befindet. Und so habe er den jetzigen Unfall nicht als Angelegenheit ihm Fremder empfunden. Ein Atomunfall der Stufe 7, wie in Tschernobyl – heißt es. Womöglich würde nicht nur das zu einer Geisterstadt gewordene Tomioka-machi, sondern ganz „Fukushima“ verschwinden. Zehntausende „AKW-Flüchtlinge“ aus Fukushima und anderen Präfekturen, darunter Tausende Kinder. Unsicherheit, Trauer, Ratlosigkeit, Wut, aber auch ein Gefühl der Mitverantwortung für das alles empfinde er – Gefühle, die er nur schwer zum Ausdruck bringen könne.

Wann würde Klarheit über den Unfall herrschen, und könne man überhaupt von „Klarheit“ reden. Er fragt sich, wie weit er unter diesen Umständen seine Eindrücke über diesen Unfall überhaupt in Worte fassen könne, ob es überhaupt sinnvoll ist, sie zu verbalisieren. Trotz des bereits Gesagten – er ist unschlüssig. (Es folgt nun die genaue Übersetzung ab S. 11 Mitte.)


 

Flucht vor der Verantwortung

Was man zumindest sagen kann: die Atomkraft ist ein Opfer-System. Darin gibt es die, die opfern und die, die geopfert werden (im Falle von Atomkraft sind erstere Menschen, letztere jedoch nicht nur Menschen). Diese Beziehung zwischen den Opfernden und den Geopferten ist keineswegs immer einfach – so, wie in anderen Opfer-Systemen auch. Doch darf diese Beziehung deshalb noch lange nicht aufgelöst werden. Ein Opfer-System entsteht und wird erhalten, indem zum Nutzen des Einen/Einiger das Leben (das nackte Leben, Gesundheit, der Alltag, Vermögen, Respekt, Hoffnungen etc.) anderer geopfert wird. Nutzen für die, die opfern, kann ohne das Opfer derer, die geopfert werden, weder entstehen noch erhalten werden. Diese(s) Opfer werden gewöhnlich verheimlicht oder aber als „heilige Opfer“, erbracht für die Gemeinschaft (Staat, Volk, Gesellschaft, Firma u.a.), verherrlicht und legitimiert. Und selbst wenn das Verheimlichen und Legitimieren sich als schwierig erweist, wenn geklagt wird, die Opfer seine unrechtmäßig gewesen, so erkennen die Opfernden ihre Verantwortung nicht an und fliehen vor der Verantwortung. Das Opfer-System dieses Landes besteht, wie auch das „Systems der Verantwortungslosigkeit“ (Maruyama Masao), weiter fort.

Nach dem 11.3. nun ist dieses „System der Verantwortungslosigkeit“ dabei, sein leeres Wesen vollständig zu offenbaren.

Am 19. April veröffentlichte das MEXT (Ministerium für Ministerium für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie) die Normwerte für die Nutzung von Schul-Gebäuden und –höfen in den Grund- und Mittelschulen der Präfektur Fukushima; angewiesen wurde die Einschränkung der Bewegung außerhalb von Gebäuden dort, wo die Strahlenbelastung – bei einer maximal erlaubten Strahlendosis von 20 Millisievert pro Jahr – auf den Schulhöfen höher als 3,8 Mikrosievert pro Stunde lag. Demzufolge konnte man sich bis auf 13 Einrichtungen in den Städten Fukushima, Kōriyama und Date in allen Schulen normal bewegen (später wurden fast alle Einschränkungen aufgehoben).

Eine äußerst zweifelhafte Maßnahme. Eine Überprüfung der Fukushima-Präfektur hat ergeben, dass 75% der Präfektur zum gesetzlich bestimmten Strahlenverwaltungsgebiet und 20% zum Gebiet gehören, das besonders streng kontrolliert werden muss. Ist es da angemessen, Kindergartenkinder und Grund- sowie Mittelschüler an Orte mit selbst für Erwachsene hohen Strahlenwerten zu lassen. Da von der Regierung kaum Richtlinien ausgegeben worden waren, hatte man sich fast überall in der Präfektur mit Aktivitäten im Freien zurückgehalten. Und am 13. April ließ ein Mitglied der Kommission für AKW-Sicherheit verlautbaren, dass die jährliche Strahlenbelastung für Kinder „auf die Hälfte der für Erwachsene zu senken ist“. Allerdings wurde diese Auffassung am folgenden Tag wieder zurückgenommen: „Das war kein Kommissionsbeschluss“, und es erschienen die MEXT-Richtlinien von 20 Millisievert.

Die zugelassene Höchstmenge an radioaktiven Strahlen liegt für die allgemeine Öffentlichkeit bei einem Millisievert pro Jahr. Was heißt es dann, mehr Strahlenbelastung zuzulassen – für Kinder um das Zwanzigfache? Wofür gibt es diese Richtlinien eigentlich, wenn sie in außerordentlichen Zeiten aufgeweicht werden? Wer legt solch gefährliche Richtlinien aus welchen Gründen mit solcher Großzügigkeit fest?

Am 21. April fanden Gespräche der Bürger, die eine Rücknahme dieser Richtlinien forderten, mit der Regierung statt, an der Verantwortliche der Atomaren Sicherheitskommission (NSC) und des MEXT teilnahmen. Dabei aber kamen verblüffende Dinge ans Licht. Der MEXT-Verantwortliche wusste weder, was Kontrolle einer radioaktiven Zone eigentlich bedeutet, noch dass es dort für Unter-18-Jährige verboten ist zu arbeiten. Auch nichts von den vielen Schulen in der Fukushima-Präfektur, die im Wertebereich von zu beaufsichtigenden radioaktiven Zonen und von besonders verstrahlten Zonen liegen. Keine Antwort auf die Frage, warum die angelagerte Radioaktivität ab 23. März gemessen wird, nicht aber für die Zeit davor. Die NSC hat weder reguläre Sitzungen einberufen, noch weiß sie, wie es zur Festlegung der 20 Millisievert gekommen ist… (Die Kommission habe das MEXT) lediglich beraten, jedoch nichts festgelegt; welche Ratschläge aber gegeben wurden, welche Meinungen die fünf Kommissionsmitglieder jeweils geäußert haben – darüber gibt es weder Aufzeichnungen, noch gab es nun eine Antwort. Keine einzige Frage der Bürger, die wirklich beantwortet werden konnte.

Möglicherweise wird sich die Zukunft der Kinder von Fukushima durch diese Entscheidung verändern. Zu befürchten sind nicht nur gesundheitliche Schäden, sondern sie werden auch verschiedenen Diskriminierungen ausgesetzt sein. Wer übernimmt dafür Verantwortung? Nicht wenige Eltern verbringen schlaflose Nächte. Wird es hell, schicken sie ihre Kinder in die Schule. Ist das in Ordnung? Tun sie damit den Kindern nicht etwas an, was nicht wieder gut zu machen ist? Von den Verantwortlichen, die auf diese Sorgen reagieren müssten, ist nichts zu sehen. Tiefe Beunruhigungen, die völlig verantwortungslos außer Acht gelassen werden. (Am 30. April kritisiert der Berater des Kabinettsekretärs, Kosako Toshisō, die von der Regierung nach dem AKW-Unfall getroffenen Maßnahmen und tritt zurück. Ein Grund für den Entschluss dieses Experten für radioaktive Sicherheit war, dass „(die vom MEXT genannte Richtlinie von jährlich 20 Millisievert) einen extrem hohen Wert darstellt. Ihn anzuerkennen würde das Ende meines Wissenschaftlerlebens bedeuten. Ich könnte meinen eigenen Kindern nicht mehr in die Augen sehen. Anzuwenden ist ein jährlicher Wert von 1 Millisievert als übliche Richtlinie zum Schutz gegen Radioaktivität“.)

2009 publizierte Satō Eisaku, der ehemalige Gouverneur von Fukushima [siehe den übersetzten Satō-Text „Der Staat, der seine Bürger hintergangen hat, soll zu seiner Verantwortlichkeit stehen!“ auf dieser Homepage; S.R.], sein Buch „Ein Gouverneur wird beseitigt – der konstruierte Bestechungsvorfall von Fukushima“. Kapitel 3 („Kampf um das AKW“) und 4 („Stopp aller Reaktoren“) enthalten wichtige Zeugnisse, wie gering die Sicherheit der Präfektur-Bewohner an den jeweiligen Standorten durch die staatliche Politik der Befürwortung von AKW und die Stromkonzerne als Truppen, die sie aktiv durchgesetzt haben, geschätzt wurde.

Dem früheren Gouverneur Satō zufolge sind Präfektur und kommunale Selbstverwaltung bei AKW-Unfällen ohne jegliche Kompetenzen, es bleibt ihnen nur, mit verschränkten Armen zuzuschauen. Als sich z.B. im Januar 1989 in Fukushima 2 am Reaktor 3 ein Unfall ereignete, vertuschte Tepco die Unregelmäßigkeiten trotz mehrfachen Alarms tagelang, und auch am Tag, als davon berichtet wurde, ließ man ihn trotz Alarms noch sieben Stunden laufen. Bis die Informationen damals endlich in der Präfektur-Behörde landeten, bedurfte es eines langen Weges: „Vom AKW Fukushima zur Tepco-Zentrale, von dort ans Ministerium für Außenhandel und Industrie (MITI), und von der diesem unterstellten Energiebehörde an die Präfektur Fukushima. Gegenüber dem MITI war gefordert worden, auch der Präfektur Kompetenzen einzuräumen – keinerlei Reaktion. Denn längst war ein „System vollkommener Verantwortungslosigkeit“ entstanden, „in dem das Land – als eigentlicher Hauptinteressent der zur Staatspolitik erhobenen Atomkraft – keinerlei Initiative in Sachen Sicherheitsmaßnahmen ergreift.“

Im August 2002 kam durch eine interne Anzeige ans Licht, dass Tepco jahrelang Inspektionsberichte gefälscht hatte, um Probleme in Fukushima 1 und 2 zu vertuschen. Überdies war das Schreiben mit der Anzeige zwar schon zwei Jahre zuvor bei der Nuclear and Industrial Safety Agency (NISA) eingegangen, diese aber hat nichts unternommen, weder nachgeforscht noch den Kläger angehört; im Gegenteil hat sie Tepco über den Inhalt der Klage und den Namen des Klägers informiert. Dem ehemaligen Gouverneur zufolge „stecken Staat und Tepco unter einer Decke“, doch ist „der wirkliche ‚Schurke‘ der Staat“.

Der misstrauisch gewordene vormalige Gouverneur erklärte daraufhin das Plutonium-Thermal-Projekt, über das man schon im Vorab überein gekommen war, für null und nichtig und ging auf Frontalkurs zu beiden, Staat und Tepco. In den auf einer Kabinettsitzung im Oktober 2005 beschlossenen „Leitlinien zur Atompolitik“ jedoch fand die von der Präfektur Fukushima dargelegte Ansicht keinerlei Widerhall, der Staat ließ sich auf das Projekt des nuklearen Kreislaufs ein, von dessen Gelingen niemand überzeugt war.

Der einstige Gouverneur: „In einer Gesellschaft wie der japanischen, in der ohne sichtbare Verantwortliche auch niemand Verantwortung trägt, scheint man fest entschlossen zu sein, wie die Lemminge sehenden Auges mit aller Kraft in die Katastrophe zu laufen. Genau wie einst, vor mehr als 60 Jahren ohne Siegesaussicht in einen ungerechten Krieg marschiert worden war. Daher spreche ich von der ‚japanischen Krankheit‘“.

Nicht nur ich sehe darin wohl eine genaue „Vorskizze“ der Katastrophe nach dem 11.3. Und wer will leugnen, dass das erste Opfer dieses „Systems vollkommener Verantwortungslosigkeit“ die Bevölkerung der Fukushima-Präfektur ist?

Auf der Grundlage der drei Gesetze zur Stromversorgung (dengen sanhō)1 haben die AKW-Standort-Gemeinden enorme Subventionssummen erhalten, ein Segen für sie. In Regionen ohne größere Industrie flossen die Millionen, die Zahl der Arbeitsplätze nahm zu, die einheimische Bevölkerung profitierte davon. Und war sie es nicht, die darauf baute und die AKW anlockte? Sich jetzt einseitig als Opfer aufzuführen, man sei „verraten“ worden, das „sei nicht hinzunehmen“ – dazu hätten sie kein Recht, wird verschiedentlich diskutiert.

Jedoch haben das Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie (METI, Nachfolger des MITI) und Tepco zu allen möglichen Gelegenheiten und mit allerlei Mitteln immer wieder verlauten lassen, es gäbe „mehrfache Schutzsysteme“, „Unfälle durch Naturkatastrophen seien absolut unmöglich“. „Es ist doch selbstverständlich, dass die lokalen Gemeinden solchen Reden vertrauen.“ (Satō) So wie einst im Krieg, ist es schwierig, nicht in die staatliche Politik involviert zu werden, in die gigantische Summen – auch für die Meinungsbildung – fließen. Sicher, „hintergangen zu werden“, dafür trägt auch die „hintergangene Seite“ mit Verantwortung. Aber Subventionen hin und her – Voraussetzung für diejenigen vor Ort ist „Sicherheit“; nirgends gibt es Bewohner, die sich ohne diese Voraussetzung auf Atomkraft einlassen. Schwerer Unfall gegen Subventionen – diese Gleichung geht nicht auf.

In diesem Sinne wiegt die Verantwortung der Experten der Atomwissenschaft, der Wissenschaftler und Ingenieure, die die Propaganda von der „absoluten Sicherheit“ mit besiegelt haben, schwer. Ohne sie – die in die Staatspolitik involvierten Wissenschaftler, die Ämter in unzähligen vom METI u.a. organisierten Kommissionen und Beratungsausschüssen bekleiden und gigantische Forschungssummen von den Stromkonzernen bekommen – wäre der „Mythos von der Sicherheit der Atomkraft“ nie zustande gekommen. Gleiches trifft auf das Fernsehen und andere Massenmedien zu, in deren Gier nach Werbegeldern die „Sicherheitspropaganda“ einsickerte und die kritische Wissenschaftler und Journalisten eliminierten.


Wer sind die Opfer?

Es heißt, dass es vom 14. März, als es in Fukushima 1 zur zweiten Wasserstoffexplosion kam, bis zum nächsten Tag zwischen der Regierung und Tepco spannungsgeladene Auseinandersetzungen gegeben habe. Am Abend des 14. habe Tepco seinen Kurs in Richtung Abzug des gesamten Personal vom Unfallort sondiert, um alles weitere den Selbstverteidigungskräften und der amerikanischen Armee zu überlassen. Am nächsten Tag habe Premier Kan sich in die Zentrale von Tepco begeben, das abgelehnt und wütend gedröhnt: „Ihr seid doch die Einzigen dort. Abziehen? Unmöglich! Macht Euch bereit! Weggehen, das wäre 100% das Ende von Tepco.“ Und fügte noch hinzu: „Das Problem ist weniger das Ende von Tepco, sondern was mit Japan wird.“

Ob es wirklich so war, weiß ich nicht. Tepco, so wird erzählt, habe „zwar einen teilweisen Rückzug in Erwägung gezogen. Alle Leute abzuziehen aber hat nie zur Debatte gestanden“. Angenommen, Tepco hätte einen „vollständigen Abzug“ gewollt, so wäre das wohl der Gipfel der Verantwortungslosigkeit gewesen. Der lokalen Bevölkerung vormachen „Was immer auch passiert, alles ist sicher“, Riesenprofite erwirtschaften und dann, wenn eine Havarie passiert, alles hinwerfen, weil es aus dem Ruder läuft und Flucht. Solche Feigheit darf nicht durchgehen. Was wird aus den Leuten, die dort zurückgeblieben sind? Aus den Menschen, deren Leben und Alltag in Gefahr sind?

Wie sieht es, andererseits, aus der Sicht von Tepco aus? Obwohl ja der Staat der „eigentliche Schurke“ ist, soll nun die ganze Verantwortung Tepco – zwar ein Riesenkonzern, rechtlich gesehen aber lediglich ein Privatunternehmen – aufgebürdet werden; was passiert, wenn der Staat sich nun drücken will? Die „unter einer Decke stecken“, schieben sich nun gegenseitig die Schuld zu.

Ihr seid doch die einzigen dort“ – stellt sich die Frage, wer „ihr“ ist; „Macht Euch bereit!“ – wer soll denn Entschlossenheit (kakugo) zeigen? Für Tepco ist Kan’s „Abziehen kommt nicht in Frage!“ gleichbedeutend mit „Los! Auch wenn Ihr tödlich verstrahlt werdet“ – ziemlich unbefriedigend. „Tödlich verstrahlt“ aber werden weder der Firmenchef von Tepco, noch die Direktoren und Vizedirektoren. Es sind die Arbeiter vor Ort im AKW, und von denen gehören die meisten nicht einmal Tepco an, sondern sind nichtreguläre Arbeiter, die über Tochter- und Enkelunternehmen zusammengeholt wurden. Gegenwärtig sind 80% der Arbeiter, die in Fukushima 1 und 2 gefährlichen Tätigkeiten ausgesetzt sind, Leute aus der Region (so der Arzt, der den Gesundheitszustand der Arbeiter untersucht). Es sind also die Opfer des Atomunfalls selbst, die man die harte Frontarbeit der Unfallbereinigung erledigen lässt.

Es gibt Berichte, in denen sie als „Himmelfahrtskommando“, oder auch als „Fukushima 50“ zu Helden gemacht werden. Und sogar Debatten, die – als Arbeiten notwendig wurden, bei denen man auf enorme Verstrahlung gefasst sein muss – danach fragen, wie man denn die „Heisei-Kamikaze-Sondereinheiten“ so auswählt, dass es auch gerecht zugeht. Was aber heißt das? Kommt es zu – freiwilligen oder befohlenen – Strahlentoten, werden diese dann wie „Heldenseelen (eirei)“ als „ehrenvolle Opfer“ im Yasukuni-Schrein2 gewürdigt, die ihr Leben „für das Land“, „für das Staatsvolk“, „für Japan“ gegeben haben, und für die die Hinterbliebenen (wenn es welche gibt) mentalen Trost und finanzielle Entschädigung erhalten? Bedeutet dieser Sachverhalt aber nicht, die erbärmlichen Fehler ausbaden zu müssen, die verursacht wurden durch Nachlässigkeit, Arroganz und Dünkel einer von „vollkommener Verantwortungslosigkeit“ getriebenen Atompolitik, von einer Schar daraus Nutzen ziehender Politiker, Beamter, Stromkonzernvorständen, Atomwissenschaftlern und –ingenieuren (mit einem Wort: der „Atomkraft-Gemeinde“ genshiryoku-mura zusammenfasst)? Heißt das nicht, sie zu Opferlämmern von heute zu machen? Vom Unheil heimgesuchte Gesellschaften bringen – um sich den eigenen Verbrechen zu entziehen – Opfer, indem sie den schwachen Schafen alle Verantwortung aufbürden. Und dann huldigen sie diesen Schafen als ihre Retter.

Mit der Krise der Fukushima-AKW wurde auch die reale Situation der Frontarbeiter dort in den AKW ein wenig in den Massenmedien thematisiert. Zweimal Essen am Tag, Trockenreis und aus der Dose; eine Flasche Mineralwasser; Schichtarbeit in Schutzanzug und mit besonderer Maske, bis zu die erlaubte Strahlendosis erreicht ist; wie die Heringe zusammengepfercht schlafen in den für Zwischenfälle gebauten großen Fluchträumen im AKW, ohne Dusche und Bad etc. Doch hat Tepco bislang noch kaum Einblick in diese Situation der Strahlenarbeiter (hibaku rōdōsha) gewährt, weshalb auch die Massenmedien nicht entschlossen darüber berichten. In Fukushima ebenso wie in anderen AKW – die Strahlenarbeiter sind nicht nur in Krisenzeiten wie jetzt dort an der Front, sondern von jeher auch in „normalen Zeiten“; immer wieder erkranken oder sterben einige, vermutlich verstrahlt, doch wird diese Wahrheit nach wie vor vertuscht. „Vermutlich“ deshalb, weil ihr Tod durch Leukämie oder Krebs nicht als Arbeitsunfall anerkannt wird, wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass er durch die Strahlung verursacht wurde, der sie ausgesetzt waren. Higuchi Kenji hat in seinem Buch „In der Finsternis liquidierte AKW-Hibakusha“ (2003) Zeugenaussagen von Arbeitern aus Fukushima vorgestellt, darunter auch die von vier namentlich genannten Arbeitern, die einen solchen „ungeklärten Tod“ starben, und ihren Familien.

Und so sind die AKW ein System, das ohne die Annahme von Opfern, drin wie draußen, gar nicht existieren kann? In normalen wie in Krisen-Zeiten erfordern AKW in ihrem Inneren das Opfer der Strahlenarbeiter. Kommt es zu einer Havarie, dann werden zunächst die Bewohner an den Standorten selbst und in näherer Umgebung sowie ihre Umwelt zu Opfern, dann durch Ausbreitung radioaktiver Materialien auch Menschen und Umwelt weiträumig über die Präfektur- und Landesgrenzen hinaus.

Die historische Aufgabe nach Fukushima besteht darin, wie dem Opfer-System in angemessener Weise ein Ende bereitet werden kann. Nun, da ersichtlich geworden ist, dass der „Mythos von der Sicherheit“ ein Mythos ist, muss die Atomkraft dieses Landes gestoppt werden. Wer dieses System auch künftig zu unterstützen gewillt ist, hat die Pflicht, die prinzipielle Frage zu beantworten, wer geopfert wird. Die Einwohner der Präfektur Fukushima werden wohl kaum mehr bereit sein, sich über die AKW von Tepco zu opfern, zum Vorteil der hauptstädtischen Bevölkerung. Ishihara Shintarō, Gouverneur der Hauptstadt, hat großspurig verkündet „Ein AKW in der Tōkyō-Bucht bauen? Kein Problem“. Wenn das nicht nur ein Lippenbekenntnis war, so müsste der einstige Gouverneur Satō antworten „Dann lasst es uns wirklich tun!“

Einst gab es einen „Gesetzentwurf, um die Ausrottung von Kriegen zu gewährleisten“. Der dänische Armeegeneral Fritz Holm hatte die Idee, dass sich der Krieg von der Erde verbannen ließe, wenn es in jedem Land folgendes Gesetz gäbe. Wird ein Krieg eröffnet, so sind innerhalb von 10 Stunden in folgender Reihung als einfache Soldaten an die Front zu schicken: 1. Das Staatsoberhaupt eines Staates, 2. dessen männliche Verwandte; 3. Ministerpräsident, Staatsminister, Staatssekretäre der einzelnen Ministerien; 4. Parlamentarier, außer jenen, die gegen den Krieg waren; 5. religiöse Führer, die nicht gegen den Krieg waren. Holm war der Auffassung, dass Kriege ausbrechen, weil die Machthaber der Staaten um des eigenen Nutzens willen das Volk opfern. Wenn man daher ein System schafft, in dem man mit den Opfern von den Herrschern her beginnt, wird es mit den Kriegen zu Ende gehen.3

Was, wenn man das auf AKW-Unfälle bezieht? Angetrieben wird die Atomkraft von der „Atomkraft-Gemeinde“, das sich zusammensetzt aus Politikern, Bürokraten, den Stromkonzernen, Wissenschaftlern u.a. Folglich sollten im Falle einer Havarie zuallererst folgende Leute als „Himmelfahrtskommando“ in die Kernreaktoren geschickt werden: Premierminister, Kabinettsmitglieder, Staatssekretäre und Funktionäre des METI und anderer Ministerien, die Präsidenten und Funktionäre der Stromkonzerne, Wissenschaftler und Ingenieure im Dienste der Atomkraft. Auch die Städter, die die Atomkraft wenig bewohnten Gebieten aufdrängten, um in den Genuss von Strom zu kommen (der Autor eingeschlossen), können sich ihrer Verantwortung nicht entziehen. Das Problem aber besteht nicht darin, wer zum Opfer wird. Entscheidend ist, mit dem Opfer-System als solchem Schluss zu machen.


 

1 1974, also ein Jahr nach dem sogenannten „Erdölschock“, wurden folgende drei Gesetze erlassen, die alle dem Ziel dienten, Kraft- bzw. Elektrizitätswerke (darunter auch AKW) in peripheren Regionen zu errichten, die zugleich entsprechend subventioniert werden sollten: 1. Gesetz zur Erhebung von Steuern zur Förderung der Erschließung von Energiequellen (dengen kaihatsu sokushin zeihō); 2. Gesetz zum Sonderetat für Maßnahmen zur Förderung der Erschließung von Energiequellen (dengen kaihatsu sokushin taisaku tokubetsu kaikeihō); 3. Gesetz Ausrüstung der Regionen mit Einrichtungen zur Stromerzeugung (dengenyō shisetsu shūhen chiiki seibihō); siehe z.B. http://www.nuketext.org/yasui_koufukin.html (aufgerufen am 24. Juli 2011).

2 Yasukuni jinja: Politisch heftig umstrittener Schrein in Tōkyō (seit 1875), in dem bis 1945 alle im Namen des und für den Tennō gefallenen Soldaten aufgenommen und als sogenannte Heldenseelen (eirei) verehrt wurden. Seit der in der Nachkriegsverfassung (1947) verfügten Trennung von Staat und Religion ist der Schrein aus staatlicher Trägerschaft entlassen und wird als Religionsgesellschaft geführt. Besuche des Schreins u.a. von konservativen Politikern lösten vor allem vor dem Hintergrund Proteste im In- und Ausland aus, dass in diesem Schrein auch die 1948 vom Tōkyōter Kriegsverbrecherprozess zum Tode verurteilten und hingerichteten Kriegsverbrecher aufgenommen worden sind (vgl. dazu außer dem eingangs erwähnten Buch von Takahashi Yasukuni mondai u.a. auch Richter, Steffi (2007): Wo böse Geister spuken – der Yasukuni-Schrein in Tōkyō. http://www.zeitgeschichte-online.de/Portals/_Rainbow/documents/pdf/yasukuni.pdf).

3 Auf Nachfrage beim Autor (vielen Dank, Nicola Liscutin!) teilte Takahashi mit, dass die Lebensdaten von Holm unbekannt sind; überliefert habe diese Geschichte der Kritiker Hasegawa Nyozekan (1875-1969) 1929 in der Januarausgabe der Zeitschrift „Warera“ (vgl. http://homepage.mac.com/ehara_gen/jealous_gay/hasegawa_nyozekan.html ); Maruyama Masao u.a. hätten sie zwar für erfunden gehalten, seien der Idee aber doch ernsthaft nachgegangen; aufgegriffen worden sei sie erneut im Juli 2004 vom ehemaligen Gouverneur Okinawas, Ōta Masahide (SPJ), der diesen Vorschlag in einer Sitzung eines parlamentarischen Ausschusses an den damaligen Premier Koizumi Junichirō gerichtet habe (vgl. http://kokkai.ndl.go.jp/SENTAKU/sangiin/156/0059/15607250059019a.html).

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